Experteninterview mit Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Freitag
Christine Freitag ist Professorin für Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universit?t Paderborn. In ihrem Forschungsschwerpunkt ?P?dagogische Friedens- und Konfliktforschung“ besch?ftigt sie sich seit 25 Jahren mit Bildung in Entwicklungsl?ndern und mit der Ausbildung von Fachkr?ften für den Zivilen Friedensdienst (ZFD).
Frau Freitag, was ist ziviler Friedensdienst?
Es geht um nachhaltige Friedensf?rderung: Deutschland schickt Fachleute in Krisengebiete, um dort Konflikte zu bearbeiten und allgemein die Gesellschaft zu st?rken. 1999 hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung diesen Dienst eingerichtet. Ich habe damals den Aufbau begutachtet und mit verschiedenen Friedensorganisationen Lehrpl?ne für die Fachkr?fte ausgearbeitet und die Kursarbeit evaluiert.
Was müssen diese Fachkr?fte k?nnen?
Im Unterschied zu klassischen Entwicklungshelfern wie Ingenieure oder Mediziner sind hier Menschen mit Fachwissen in Konfliktl?sung und Mediation gefragt, also vor allem P?dagogen und Sozialwissenschaftler. Man hat in den 1990er Jahren erkannt, dass es nicht reicht, Infrastruktur wie beispielsweise Schulen aufzubauen. Erst muss der Boden dafür bereitet werden, dass Menschen friedlich und gleichberechtigt zusammen leben. Das betrifft natürlich haupts?chlich Kriegs- oder Nachkriegsgebiete, aber auch in vielen anderen Entwicklungsl?ndern ist die Benachteiligung nicht auf Armut reduziert, sondern beruht auf politischen Konflikten. Ich war viel in Argentinien und Paraguay unterwegs: In den früheren Milit?rregimen dort gab es Konstellationen von Macht und Unrecht, die einem Gro?teil der Bev?lkerung Zugang zu Bildung und Partizipation verwehrten und die heute nachwirken. Im Kern geht es also beim Friedensdienst darum, Menschen zusammen zu führen und auch Konfliktparteien mit ihren ganz unterschiedlichen Erwartungen und Wünschen an einen Tisch zu bringen.
Was tun die Fachleute konkret vor Ort?
Das sind ganz unterschiedliche Projekte und die müssen wirklich auch lokal abgestimmt sein. Daher ist auch die Qualifizierung dieser Fachleute so schwierig. Aber es geht zum Beispiel um die Unterstützung von Bürger- oder speziell Fraueninitiativen, es geht viel um Jugendarbeit, z. B. die F?rderung gemeinsamer sportlicher Aktivit?ten. An vielen Orten werden Zentren gegründet, als neutrale ?ffentliche R?ume, in denen Konfliktparteien zusammen kommen k?nnen und Konflikte moderiert werden. Ein Beispiel sind die interreligi?sen Zentren in den jugoslawischen Nachfolgestaaten, die sehr wichtige und erfolgreiche Friedensarbeit leisten; diese beruhen aber haupts?chlich auf lokalen Initiativen.
Wie erfolgreich ist diese Arbeit insgesamt und was ist ihr Fazit nach jetzt 15 Jahren ZFD?
Ich halte die seit den 1990er Jahren verst?rkt wahrnehmbare Fokussierung auf Konfliktbearbeitung statt allein auf Armutsbek?mpfung für sinnvoll. Auch der von der Bundesregierung gef?rderte Zivile Friedensdienst setzt da wichtige Signale, erg?nzend zu den Mitteln für die klassische Entwicklungshilfe und vor allem ausgleichend zu den Milliarden Ausgaben für die Rüstungsindustrie. Allerdings würde ich mich dabei mehr auf die Ausbildung von Fachleuten vor Ort konzentrieren. Es gibt dort oft tolle Leute, die mit aller Kraft versuchen, etwas zu ver?ndern und die mit ihrer Ortskenntnis wirkungsvollere und nachhaltigere Arbeit leisten k?nnen als eine deutsche Fachkraft, die für ein dreij?hriges Projekt in eine Krisenregion geht. Bei solchen Projekten muss im ?brigen auch sehr darauf geachtet werden, Konflikte nicht noch weiter zu verst?rken. Es gibt den Leitspruch: Do not harm, also: Richte kein Unheil an. Das gilt übrigens vor allem auch für die Humanit?re Hilfe: Wenn irgendwo Nahrungsmittel verteilt werden, muss ich fragen: Wer bekommt das und ist das gerecht? Werden dadurch Verteilungsk?mpfe oder bereits bestehende Konflikte angeheizt? Da ist eine sehr konfliktsensible Hilfeplanung notwendig und man muss sich immer wieder fragen: Für wen ist das gut und für wen nicht?
360直播吧 sind ja Erziehungswissenschaftlerin: Welche Rolle spielt Bildung im Friedensdienst?
Bildung ist ein Hoffnungstr?ger. Das ist wirklich ein Ph?nomen: Selbst in Flüchtlingslagern, wo es ja erstmal um das existenzielle ?berleben geht, wollen die Menschen Schulen für ihre Kinder einrichten – sozusagen als Symbol für Zukunft und Perspektive. Bildung gibt die Hoffnung auf ein besseres Leben. Aber die Frage, was Bildung wirklich leisten kann und wie sie aussehen soll, ist allgemein schwer zu beantworten. In vielen Entwicklungsl?ndern ist Bildung immer noch ein Privileg der Elite, gro?e Teile der Bev?lkerung oder bestimmte Minderheiten sind davon ausgeschlossen. Hier müssen wie gesagt h?ufig erst die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen geschaffen werden. Und dann geht es auch um die Frage der Qualit?t der Bildung: Da geht es dann aber nicht zuerst um das, was internationale Schulleistungsstudien messen, sondern um die Entwicklung lokal relevanter Bildungsstandards, die den Menschen tats?chlich ein besseres Leben erm?glichen.
Interview: Frauke D?ll