Seit 1918 dürfen Frauen in Deutschland w?hlen. Grund genug, um aktuelle Entwicklungen im Bereich der Gleichstellung anl?sslich des internationalen Frauentages am 8. M?rz kritisch zu hinterfragen.
Prof. Dr. Antje Langer, wissenschaftliche Leiterin des Zentrums für Geschlechterstudien an der Universit?t Paderborn, erkl?rt im Interview, wo Gleichberechtigung gut funktioniert und wo sie Nachholbedarf sieht.
Gerade wurde die ?nderung der kanadischen Nationalhymne rechtskr?ftig, ?sterreich hat seine Hymne bereits 2012 in gendergerechte Sprache ?übersetzt“. Jetzt fordert SPD-Politikerin Rose-M?hring, Gleichstellungsbeauftragte des Bundesfamilienministeriums, den Text der deutschen Nationalhymne ebenfalls anzupassen: ?Heimatland“ statt ?Vaterland“, ?couragiert mit Herz und Hand“ statt ?brüderlich mit Herz und Hand“. Wie bewerten 360直播吧 das?
Langer: Ich begrü?e die Thematisierung und die Diskussion darüber. Gleichwohl erwarte ich nicht, dass sich soziale und strukturelle Ungleichheiten dadurch l?sen lassen.
Das Frauenwahlrecht war ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichberechtigung, zumindest auf politischer Ebene. Allerdings kursieren auch heute noch konservative Frauenbilder in der Politik – 100 Jahre sp?ter. Wie kommt es dazu? Stillstand oder Rückschritt?
Langer: Das Frauenwahlrecht war sehr wichtig, da es Frauen grunds?tzlich überhaupt die M?glichkeit gab, an politischen Entscheidungen teilzuhaben und sie auch als politisch handlungsf?hige Personen anzuerkennen. Diese Entscheidungs- und Handlungsf?higkeit wurde ihnen zuvor aberkannt. Wenn wir jetzt auf 100 Jahre Frauenwahlrecht zurückblicken, werden die Errungenschaften überhaupt erst wieder deutlich. Im Alltag sind diese ja wenig pr?sent. Dass Frauen w?hlen dürfen, scheint mittlerweile ebenso selbstverst?ndlich wie Frauen als Spitzenpolitikerinnen. Wie sehr aber vermeintlich überholte Vorstellungen von Frauen und M?nnern auch diesen immer wieder begegnen, wird daran deutlich, dass Politikerinnen immer als Frau betrachtet und bewertet werden, bei Politikern spielt deren Mann-Sein in der Regel keine Rolle.
Ich würde weder von Stillstand noch von Rückschritt sprechen, es finden sich derzeit viele unterschiedliche Entwürfe von M?nnlichkeit und Weiblichkeit, die nebeneinander bestehen oder sich aneinander reiben. Emanzipierte junge Leute werden in der Regel erst wenn sie Eltern werden oder mit dem Berufseinstieg mit den Hürden, die die strukturelle Geschlechterdifferenzierung mit sich bringt, konfrontiert. Es finden zur gleichen Zeit viele Ver?nderungen statt, die h?chst widersprüchlich und sehr komplex sind. So ?ndern mehr Frauen in der Politik nicht zwangsl?ufig etwas daran, dass es beispielsweise unter alleinerziehenden Müttern besonders viel Hartz IV-Empf?ngerinnen gibt oder besonders Frauen von Altersarmut bedroht sind.
Grunds?tzlich: Wo besteht Nachholbedarf, wo funktioniert die Gleichberechtigung gut?
Langer: Im Bereich der Bildung haben M?dchen gleiche Zug?nge wie Jungen, problematischer ist hier die soziale Ungleichheit, die aus der sozialen Herkunft resultiert. Auch gibt es ein zunehmendes Bewusstsein, dass Geschlechterfragen diskutiert werden müssen. Diese Diskussionen dürfen allerdings nicht als Konkurrenzkampf geführt werden. Es geht um strukturelle Ungleichheit. Grunds?tzlichen Handlungsbedarf sehe ich in der Anerkennung von Berufen und T?tigkeiten vor allem von Frauen. Es muss über eine andere Verteilung von Arbeit nachgedacht werden und sowohl Fürsorge als auch Pflege als gesellschaftlich notwendig anerkannt werden. Das Prestige entscheidet auch darüber, ob M?nner sich dafür entscheiden, sich solchen Bereichen zu widmen. Frauen in Führungspositionen geben diese T?tigkeiten h?ufig an Migrantinnen ab. Dadurch kommt es lediglich zu Verschiebungen. Und wieso soll die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nur Frauen betreffen? Die Rückblicke auf 100 Jahre Frauenwahlrecht zeigen doch eigentlich, dass wir da tats?chlich weiter sind.
Das Interview führte Nina Reckendorf, Stabsstelle Presse und Kommunikation.